Teil 5:
Beteiligung aller Mitarbeiter


ULI NEUENHAUSEN
Leiter von Forum Wiedenest

Die Evangelisation war schon lange geplant und bis ins Detail durchdacht. Ein kluger Mix aus Einsätzen in der Stadt, Besuchen an der Haustüre und Veranstaltungen abends in der Gemeinde. Der Redner war bekannt und rhetorisch gut. Die Band hatte monatelang geübt. Eine ganze Reihe von Mitgliedern aus der Gemeinde war gekommen, dazu einige Freunde und Gäste aus anderen Gemeinden in der Nähe. Es fehlte nur ein kleines Detail: Die Zielgruppe, nämlich Menschen, die sich für den Glauben an Jesus interessieren. Daraufhin fassten der Pastor und die Gemeindeleitung einen Plan: Sie würden in mehreren Predigten darauf hinweisen, dass es zum christlichen Lebensstil gehöre, zu evangelisieren. Dazu müsse dann auch gehören, fremde Menschen mit zu einer Evangelisation in der Gemeinde zu schleppen.

Dieses konstruierte Beispiel schildert den typischen Reflex von Verantwortlichen in Gemeinden und Organisationen, wenn sie feststellen, dass ihre Mitarbeiter nicht wirklich mitziehen. Ich habe allerdings noch nicht gehört, dass Appelle und Ermahnungen dauerhafte Wirkung bei der Mobilisierung von Mitarbeitern haben. Kurzfristig lassen sich so noch einmal Kräfte freisetzen, aber langfristig kommt es eher zum Frust und inneren Abschied. Das Geheimnis erfolgreicher Motivation ist die „Partizipation“, die Beteiligung der Mitarbeiter. Damit ist nicht die Beteiligung an der Arbeit gemeint, sondern an der Verantwortung, Planung und Gestaltung.
Ich nehme vier herausfordernde Bereiche in Bezug auf Beteiligung von Mitarbeitern in der Gemeinde wahr:

  1. Gemeinsames Gestalten der Leitung mit der Basis
  2. Gemeinsames Gestalten der Älteren mit den Jüngeren
  3. Gemeinsames Gestalten der Männer mit den Frauen
  4. Gemeinsames Gestalten der unterschiedlichen Charaktere und Begabungen

1. Die Leitung und die Basis

Die klassische Vorstellung von Leitung ist noch von der Idee geprägt, dass du erst dann in der Gemeinde mitsprechen darfst, wenn du die Leitungsebene erreicht hast. Vorher bist du mehr oder weniger ohnmächtig.
Die Apostel machen uns vor, dass sich Gestaltung und Einfluss teilen lässt und nicht auf die Leitung beschränkt sein muss: Ein Konflikt in der Gemeinde ruft nach einer besseren Struktur und geeigneten Mitarbeitern. Es geht um Geld – viel Geld. Die Apostel verwalten ein Vermögen:

„Es gab unter ihnen auch niemand, der Not leiden musste. Denn 'wenn die Bedürfnisse es erforderten,' verkauften diejenigen, die ein Grundstück oder ein Haus besaßen, ihren Besitz und stellten den Erlös 'der Gemeinde' zur Verfügung, indem sie das Geld vor den Aposteln niederlegten. Davon wurde dann jedem das zugeteilt, was er nötig hatte.“ Apostelgeschichte 4,34-35

Wo Geld im Spiel ist, geht es auch um Macht und Einfluss. So kann schnell Misstrauen entstehen und es können Konflikte aufkommen: Es fühlen sich einige in der Gemeinde benachteiligt, nämlich die „Migranten“-Witwen. Sie sind zwar Juden, stammen aber aus Ländern außerhalb Israels und sind z.B. durch Pilgerfahrten oder Umsiedlung nach Jerusalem gekommen. Hier sind sie in große Not geraten, als der Ehemann verstarb und nehmen nun dankbar die Hilfe der christlichen Gemeinde an. Allerdings gewinnen sie mit der Zeit den Eindruck, dass Witwen, die aus Jerusalem selbst stammen, besser versorgt werden. Das passt nicht zu einer Gemeinde, in der es keine Standesunterschiede geben sollten. Die Witwen beschweren sich.
Wie hätten die Apostel reagieren können? Mit einem Machtwort? Einer tollen Andacht, die klar macht, dass man lieber zufrieden sein solle und nicht murren dürfe? Mit mehr Überstunden und noch mehr Einsatz, damit es endlich gerecht zugehe?
Der Weg, den die Apostel wählen, ist, ihre Gestaltungsmöglichkeiten und ihren Einfluss zu teilen:

„Seht euch daher, liebe Geschwister, in eurer Mitte nach sieben Männern um, die einen guten Ruf haben, mit dem Heiligen Geist erfüllt sind und von Gott Weisheit und Einsicht bekommen haben. Ihnen wollen wir diese Aufgabe übertragen.“ Apostelgeschichte 6,3

Sie setzen nicht nur fähige Leute ein, um sich um die vernachlässigten Witwen zu kümmern. Sie überlassen die Auswahl dieser Leute der Gemeindebasis. So verhindern sie, dass ihnen jemand „Kungelei“ unterstellen kann. Die Gemeinde bekommt die Leute, denen sie Vertrauen schenkt. Der Konflikt wird also nicht „top-down“ (von oben nach unten) gelöst, sondern „bottom-up“ (von unten nach oben). Ich habe großen Respekt vor dem Mut der Apostel, die Verwaltung des Geldvermögens aus der Hand zu geben, um sich über Vision, Ausrichtung, Lehre und Ziel der Gemeinde anhand von Gottes Wort und unter Gebet mehr Gedanken zu machen. (Apostelgeschichte 6,4)

2. Die Älteren und die Jüngeren

Was bedeutet es, zum Jahrgang der Baby-Boomer zu gehören?

„In Westdeutschland begann der Babyboom auf Grund der Kriegsfolgen verzögert erst Mitte der 1950er, löste die Generation der sog. Kriegskinder ab und dauerte dort bis Ende der 1960er Jahre.“ (Wikipedia: „Baby-Boomer“, 10.02.2020)

An den drei Bevölkerungspyramiden des Statistischen Bundesamtes (s. unten) lässt sich sehr schön erkennen, wie dir große Ausbuchtung der Zahlen von Männern und Frauen auf der Altersskala langsam nach oben wandert. Die „Beule“ beginnt bei ca. 50 Jahren und endet bei ca. 70. Das sind die Babyboomer. Die Spitze liegt jetzt, im Jahr 2020, in den Altersstufen zwischen 55 und 60 Jahren. Das ist genau mein Alter. So wie ich sind viele aus diesen Jahrgängen jetzt in Leitungsverantwortung. Wir haben es geschafft, wir sind oben angelangt und da bekommt man uns auch nicht mehr so leicht weg – wir sind nämlich viele! Leider hat das eine fatale Wirkung nach „unten“, zu den jüngeren Jahrgängen hin. Die haben nämlich fast keine Chance, angesichts der Übermacht der Babyboomer in deren Reihen von Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten vorzustoßen – es sei denn, wir Babyboomer ebnen ihnen gezielt den Weg dorthin.
Das Miteinander der Generationen ist kein Zufall, sondern braucht Entschlossenheit und Aktivität. Ich frage mich, ob manche Gemeinde, die den Weggang junger Leute hin zu anderen, cooleren Gemeinden beklagt, jemals darin investiert hat, junge Leute gezielt in Verantwortung zu führen. Diejenigen der Jüngeren, die die Kapazität und Begabung haben, Verantwortung zu übernehmen, werden nicht warten, bis meine Generation ihnen später einmal den Weg freimacht. Sie werden vorher verschwinden und in Gemeinden, die sie jetzt fördern und ihnen jetzt größere Aufgaben anvertrauen.

3. Die Männer und die Frauen

Ähnlich wie mit den jungen Leuten und den „alten“ Baby-Boomern verhält es sich manchmal mit den Männern und Frauen: Männer gestalten die Gemeinde und nehmen möglicherweise überhaupt nicht wahr, dass die Stimmen der Frauen oft weder gehört noch berücksichtigt werden. Texte von Paulus in 1 Korinther 14 und 1 Timotheus 2 machen es scheinbar einfach, Frauen bei Gemeinde-Entwicklungsfragen zu ignorieren und das geistliche Entwickeln und Voranbringen von Gemeinde allein als männliche Aufgabe zu verstehen. Mein Vorschlag ist, dass Männer mal nur das lesen, was wirklich an Männer gerichtet ist: Die Ehefrau lieben wie sich selbst (Epheser 5), Frauen Ehre erweisen (1 Petrus 3), zuerst an die Bedürfnisse und das Wohl der Frauen zu denken als an die eigenen Interessen (Phil 2,1-5 – hier geht es nicht speziell um Frauen, sondern grundsätzlich um das Wohl des „Anderen“) usw. Was bedeuteten diese Texte für den Umgang von Männern mit Frauen in der Gemeinde? Gerade dieser gute Umgang miteinander ist ein starkes Anliegen des Paulus. Er beschreibt die Agenda Gottes für die Gemeinde mit „Frieden“:

„Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern ein Gott des Friedens.“ (1 Korinther 14,33)

Dies ist der Vers, der das Thema „Propheten“ und das Thema „Frauen“ in 1 Korinther 14 miteinander verbindet. Die Propheten stürzten den Gottesdienst der Korinther ins Chaos, weil sie durcheinander redeten und vor allem Bestätigung dafür wollten, dass Gottes Geist sie in besonderer Weise gebraucht. Die Sprachenredner waren ähnlich drauf und interessierten sich nicht für einen Gottesdienst, in dem Menschen durch verständliche Botschaften gesegnet werden. Und irgendwie haben wohl auch die Frauen zum Chaos beigetragen, so dass Paulus ihnen gebietet, still zu sein, wie es ja auch von ihrer Kultur erwartet wurde. Heute geht es weder um chaotische Gottesdienste noch ausgeflippte Geistbegabte, nicht um Alkoholismus im Gottesdienst noch Unordnung. Es ist heute sicher selten, dass Frauen – oder Männer – durch laute Zwischenrufe oder unangemessene Zwischenfragen den Gottesdienst sabotieren. Aber es geht immer noch um Frieden. Dazu gehört, dass auch Frauen ihre Begabung und Berufung entdecken und zu Gottes Ehre in die Gemeinde einbringen können.

4. Die Begabten und die Besonderen

Vielleicht ist das schwierigste Aufgabenfeld für die Beteiligung aller Mitarbeiter an der Gestaltung der Gemeinde der Umgang mit „besonderen“ Menschen. Ich persönlich finde Evangelisten ganz besonders. Vor allem, weil sie so viel Mut haben und bereit sind, sich für Jesus zu blamieren. Mich fasziniert diese Eigenschaft – vielleicht, weil ich gerne mehr davon hätte. Manchmal aber haben Evangelisten auch keine Hemmungen, mir ihre Meinung zu sagen und schämen sich nicht, mir direkt zu widersprechen. Dann schlägt meine Bewunderung schon mal in ein Genervt-sein um.
Trotzdem bin ich fest überzeugt, dass Gott uns die verschiedenen Charaktere und Begabungen in der Gemeinde nicht dafür gibt, uns aneinander aufzureiben und Fronten zu bilden, sondern um miteinander zu lernen und im Zusammenspiel der Gaben das Optimale für die Gemeinde zu schaffen:

„Er ist es nun auch, der 'der Gemeinde' Gaben geschenkt hat: Er hat ihr die Apostel gegeben, die Propheten, die Evangelisten, die Hirten und Lehrer. Sie haben die Aufgabe, diejenigen, die zu Gottes heiligem Volk gehören, für ihren Dienst auszurüsten, damit 'die Gemeinde', der Leib von Christus, aufgebaut wird.“ (Epheser 4,11- 12)

Ich stelle mir vor, dass ein Team von so unterschiedlich begabten Menschen immer wieder erheblichen Diskussionsbedarf hat. Aber offensichtlich will Gott solche Teams, damit sie, wie er durch Paulus in Epheser 4 sagt, die Gemeinde ausrüsten und aufbauen. Verschiedenheit ist nicht Last noch Unglück, sondern Segen und Chance.
Hirten haben ein riesiges Herz für ihre Herde und einen wunderbaren Blick für die Bedürfnisse der Schafe. Deshalb kommen sie auch nicht schnell auf die Idee, die Herde zu teilen und so zu multiplizieren, oder anderswo eine ganz neue Herde zu starten. Das waren im Neuen Testament eher die Apostel, die ständig unterwegs waren, um Gemeinden zu gründen und zu stärken. Die Lehrer sichern das Fundament der Gemeinde und schlagen frühzeitig Alarm, wenn etwas in die falsche Richtung läuft. Die Propheten wiederum haben ihren Schwerpunkt beim Gebet und hören auf Gott. Sie motivieren die Gemeinde, am Gebet dranzubleiben und sich immer wieder neu für die Frage zu öffnen, was jetzt und hier Gottes guter Wille ist. Diese Unterschiedlichkeit birgt eine Menge Konfliktpotential. Wer die Unterschiedlichkeit nicht will und lieber „homogene Teams“ schafft, wo möglichst alle ähnlich denken und glauben und es daher an kritischen Stellen keinen Widerspruch gibt, der wird zwangsläufig die Gemeinde in eine ungesunde Einseitigkeit führen.

Zuversichtlich auch bei Überraschungen

Wie können wir zukunftsfähige Gemeinde werden? Wie können wir der Zukunft mutig entgegengehen, obwohl wir keine Ahnung haben, welche guten oder bösen Überraschungen bzw. welche schwarzen Schwäne auf uns warten? Indem wir die Gemeinde fit machen für die Zukunft und das Potential der ganzen Gemeinde nutzen. Einseitig sein ist bequemer. Der autoritäre Leiter an der Spitze einer Gruppe muss sich um niemanden kümmern und kann machen, was er für richtig hält. Das klingt einfach. Leider wirkt das nicht motivierend auf die Mitarbeiter der Gemeinde. Christen, die sich freiwillig und gern in Gemeinden engagieren, brauchen aber Motivation und Vorbild, um ihre Gaben einzubringen. Eine der vorrangigsten Aufgaben von Leitern ist deshalb, (a) möglichst alle Gaben der Gemeinde zur Entfaltung kommen zu lassen, (b) die junge Generation jetzt schon für die Gestaltung der Gemeinde zu gewinnen, (c) Frauen und Männern zu helfen, gemeinsam in ihre Berufung für Aufgaben in der Gemeinde zu kommen und (d) unterschiedliche Begabungen und Charaktere ihren Stärken gemäß einzusetzen.
Gemeinde soll wachsen (Epheser 4,15-16). Gemeindeleitungen sind deshalb herausgefordert, Wachstum zu ermöglichen, indem sie alle Mitarbeiter ihren Gaben gemäß an der Gestaltung der Gemeinde beteiligen.

 

Artikel erschienen in:
Offene Türen 2020-2
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